September 21, 2015

{Rezension} Die Ungeduld des Herzens von Stefan Zweig I Klassiker der Weltliteratur



Es ist Frühjahr 1914, wenige Monate vor dem Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist der Hauptprotagonist, der 25jährige Leutnant Anton Hofmiller, ein gutmütiger und empfindsamer junger Mann aus einfachen Verhältnissen, in einem Garnisonsstädchen im österreich-ungarischen Grenzgebiet stationiert.
Er erhält eine Einladung zu einer Abendgesellschaft in das Schloss des ungarischen Magnaten Lajos von Kekesfalva und begegnet dort zum ersten Mal seiner 17jähriger Tochter Edith und sogleich begeht er einen schwerwiegenden und für das restliche Romangeschehen sorgende Fauxpas - er fordert unwissend die Tochter des Gastgebers zu einem Tanz auf und diese bricht plötzlich in Tränen aus, denn seit einem Vorfall aus der Vergangenheit ist Edith gelähmt. Von ihrer Cousine Ilona erfährt Toni die Wahrheit und verlässt daraufhin panickartig und voller Scham das Schloss.  

 „Das war die unselige Tölpelei, mit der die ganze Sache begann." (Seite 34), schreibt Stefan Zweig, denn fortan kann der Leutnant an nichts anderes denken als an diesen peinlichen Vorfall, dieses vermeintliche Unrecht, welches er der jungen Gelähmten angetan hat, aber auch und speziell an das künftige Gespött seiner Kameraden.
Und morgen - der Schweiß brach mir aus, ich fühlte ihn kalt unter der Kappe - wußte und schwätzte und behechelte schon die ganze Stadt meine Blamage. Ich sah sie schon vor mir in Gedanken, meine Kameraden (...), wie sie schmatzen auf mich zukommen würden: Na, Toni, schön führst du dich auf! Einmal wenn man dich von der Leine läßt, und du blamierst das ganze Regiment!" Monate wird dieses Hecheln und Höhnen noch weitergehen, (...) jede Dummheit nachgekaut, (...) jede Eselei verweigt sich, jeder Witz petrifiziert." (Seite 35)
Schon am nächsten Tag läuft Hofmiller mit Blumen erneut zum Schloss der Kekesfalva, um sich zu entschuldigen und von da an kommt er jeden Tag um Edith, sowie ihre Cousine und ihren Vater zu besuchen. Anton hat Mitleid mit Edith, es tut ihm Leid, dass das Mädchen seit dem Unfall an das Schloss gefesselt ist und es ihr nicht mehr möglich ist, ihre Lebendigkeit und Dynamik mit Bewegung auszuleben. Doch das ist nicht allein der Grund für Hofmillers tägliche Besuche. Er merkt welch schönes Gefühl es sein kann, anderen Menschen eine Freude zu machen und findet bald schon eine Art Familienanschluss. Mit gutem und teuren Essen, Zigaretten, kleinen Geschenken und Aufmerksamkeiten verwöhnen die Kekesfalvas den jungen Leutnanten. Er findet einen angenehmen Zeitvertreib in der Familie, der sich ganz deutlich unterscheidet von dem immer gleichen Gesprächen und Kartenspielen seiner Kameraden aus dem Regiment und während er unter seinen Kameraden einer von vielen ist, steht er bei den Kekesfalvas deutlich und konkurrenzlos im Mittelpunkt. Anton Hofmiller genießt all die Aufmerksamkeit, die ihm zukommt und man kann es ihm nicht verübeln in Anbetracht seines gewohnten Lebens. Aus einfachen Verhältnissen stammend, begann er bereits mit einem Alter von 13 Jahren seine militärische Ausbildung in der Kadettenschule.
Das erhebende Gefühl, welches Anton empfindet, indem er Edith kleine Freuden macht, sie jeden Tag besuchen kommt und ihr Gesellschaft leistet, ihr ab und an Blumen mitbringt von seinem spärlichen Gehalt, intensiviert sich und bald scheint es, als lebe Hofmiller einzig und allein für sein aufopferndes Mitleid für ein armes und vom Leben gezeichnetes Kind und die daraus resultierende Reaktionen: Die große Dankbarkeit der gesamten Familie Kekesfalva sowie der gesamten Dienerschaft für seine Freundlichkeit.
Nun aber war das Unerwartete geschehen, und staunend blickte ich mit aufgeschreckter Neugier mich selber an. Wie? Auch ich mittelmäßiger junger Mensch hatte Macht über andere Menschen? Ich, der keine fünfzig Kronen ehrlich meinen Besitz nennen konnte, vermochte einem reichen Manne mehr Glück zu schenken als alle seine Freunde? Ich, Leutnant Hofmiller, konnte jemandem helfen, ich konnte jemanden trösten? Wenn ich mich einen Abend, zwei Abende zu einem lahmen, verstörten Mädchen setzte und mit ihr plauderte, wurden ihre Augen hell, ihre Wangen atmeten Leben, und ein ganzes verdüstertes Haus ward licht durch meine Gegenwart?" (Seite 66/67)
Edith gewöhnt sich an Hofmillers tägliche Besuche, fordert sie regelrecht ein und verliebt sich schließlich in den jungen Leutnant, was er selbst erst als Letzter bemerkt. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, dass auch behinderte Menschen Liebe und Sexualität empfinden können und nicht nur das ist der Grund für seine falsche Annahme. Kontinuierlich wird die zierliche, kränkliche Edith als Kind bezeichnet und so kommt ihm gar nicht der Gedanke, Sexualität und erotische Triebe mit Edith in Verbindung zu setzen. Umso erschrockener zeigt er sich also, als Edith ihn mit einem wilden Kuss überfällt und ihm ihre Gefühle gesteht. Er erwidert Ediths Zuneigung und Liebe nicht und ist nicht in der Lage, ihr das ehrlich zu sagen, da er fürchtet, das labile Mädchen damit zu verletzen. Hofmiller verwickelt sich immer mehr und mehr in eine vollkommen aussichtslose und für alle Beteiligten schmerzhafte Situation.

Edith ist dabei ein ambivalenter Protagonist. Einerseits scheint sie, trotz ihrer 17 Jahre sehr verständlich und ihrer Lage durchaus bewusst zu sein. Sie durchschaut auch Hofmillers Motive und ist sich seines Mitleids bewusst. Das Mädchen reagiert mit Bitterheit und Sarkasmus darauf, treibt den hilflosen Leutnant verbal in die Ende, wirft ihm ihr Schicksal und ihre Tragik vor.


Sehr, sehr höflich haben Sie sich ausgedrückt, und sehr gewunden. Aber ich hab Sie doch genau verstanden. Ganz genau verstanden…Sie kommen, sagen Sie, weil ich so „allein“ bin – das heißt auf gut deutsch: weil ich angenagelt bin an diesen verfluchten Liegestuhl. Nur deshalb also trotten Sie täglich heraus, nur als barmherziger Samariter kommen Sie zu dem „armen, kranken Kind“ – so nennt ihr mich wohl alle, wenn ich nicht dabei bin, ich weiß schon, ich weiß. Nur aus Mitleid kommen Sie, ja, ja, ich glaub’s Ihnen schon – warum wollen Sie’s jetzt wieder ableugnen? Sie sind doch ein sogenanter „guter“ Mensch und lassen sich gern von meinem Vater so nennen. Solche „gute Menschen“ haben Mitleid mit jedem geprügelten Hund und jeder räudigen Katze – warum nicht auch mit einem Krüppel? (...) Ich pfeife auf diese Art Freundschaft, die nur meiner Krüpplei gilt (...) Nur aus Mitleid, das spüre ich doch längst in allen Gliedern (...) - aber bedaure, ich will nicht, daß jemand mir Opfer bringt! (...) Ich brauch Euch alle nicht... Ich werde schon selber fertig mit mir, ich steh's schon alleine durch. Und wenn's nicht weiter geht, dann weiß ich schon, wie ich loskomme von Euch.."
(Seite 257/258)
Andererseits redet sie sich ein, dass Hofmillers Absichten vielleicht doch nicht nur auf Mitleid beruhen, dass auch er Zuneigung für sie hegt. Immer wieder erlebt der Leser die zornigen und leidenschaftlichen Zornausbrüche Ediths, nicht nur Hofmiller sondern ebenfalls gegenüber der gesamten Familie. Hier zeigt sich auch ihre innere Zerrissenheit, ihr großes emotionales Problem mit der Lähmung klar zu kommen und vor allem, wie ihre Familienmitglieder und der Leutnant mit ihr aufgrund dessen umgehen.

Eine weiterer wichtiger Protagonst stellt Ediths Arzt, Dr. Condor dar. Er ist der einzige ihrer Ärzte, welche sie nicht aufgegeben hat und ihr immer wieder gut zuredet, obwohl er dabei ganz nüchtern und begründet bleibt, denn er weiß nicht ob Edith jemals wieder laufen werden wird und macht ihr damit auch keine unnötigen Hoffnungen. Ganz im Gegenteil zu Hofmiller, welcher große Hoffnungen in ihr weckt und sie im Glauben lässt, sicherlich bald geheilt zu werden. Er findet nicht den Mut diese zurückzunehmen, obwohl er genau weiß, dass die Enttäuschung Ediths darüber langfristig gesehen noch größer wird. Doch Edith schöpft aus dem Glauben an eine baldige Heilung eine nie dagewesene Hoffnung und Positivität. Zum ersten Mal nach dem Unfall zeigt sie sich glücklich und lebendig. So schließen Anton und Dr. Condor den geheimen Entschluss ihr alles vorerst zu verschweigen und Condor und Kekesfalva reden Hofmiller weiter zu, sich Edith gegenüber weiter freundlich und zuvorkommend zu verhalten. Außerdem zeigt sich der Arzt als Freund Hofmillers, ihm vertraut der junge Leutnant alles an, erzählt ihm von seinen Zweifeln und Ängsten und der Arzt, der selbst eine Blinde zur Frau hat, durchschaut auch Hofmillers Ängste um den Spott und die Verachtung seiner Kameraden, zeigt aber auch Verständnis, hört ihm zu, versucht mit ihm geeignete Lösungen zu finden

Nicht nur die Zerrissenheit Ediths stellt Stefan Zweig in seinem einzigen Roman meisterhaft da, auch die innere Zerrissenheit Hofmillers. Immer tiefer verstrickt er sich in einen Gewissenskonflikt und ist hin und her gerissen zwischen dem Bestreben alles richtig zu machen, dem aufrichtigen Wunsch, den Kekesfalvas zu helfen und der Angst vor Verantwortung, der Angst mit all dem nicht fertig zu werden, auch mit der Angst vor dem Gespött seiner Kameraden. Edith macht Hofmiller eindeutig klar, dass sie sein Mitleid nicht will, dass sie sich einzig nach seiner Liebe sehnt, dass auch sie, ausgeschlossen vom Leben durch ihre Behinderung, Sehnsüchte hat und nur für ihn gesund werden will. Schließlich kommt es sogar zu einer Verlobung zwischen Toni und Edith und als der Leutnant diese in aller Öffentlichkeit abstreitet, nimmt die Tragödie, die Katastrophe ihren Lauf.

Geschildert wird der Roman ununterbrochen aus Hofmillers Sicht, der die Geschichte Jahre später nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg schildert und noch immer Schuld empfindet, noch immer ein schlechtes Gewissen hat.

Aber seit jener Stunde weiß ich neuerdings: keine Schuld ist vergessen, solange noch das Gewissen um sie weiß." (Seite 456)

Stefan Zweigs Sprache mag ich besonders gern, er schildert sehr genau, schreibt sehr plastisch und bildhaft. Obgleich Zweig öfter auch für heutige Verhältnisse sehr veraltete Begriffe verwendet, tun diese dem Roman keinen Abbruch, im Gegenteil, sie steigern die Authentizität des Romans. Gut fand ich auch die Metapher des Märchens vom Djinn, an den Hofmiller immer zu denken muss. Aus Mitleid nimmt man die Last eines anderen auf und wird diese nie mehr los. Ediths Vater sieht er hier immer wieder als den Djinn, denn dem kränklich, sorgendem Vater kann Anton nichts abschlagen. Mitleid ist das zentrale Thema des Romans, das Mitleid steht im Mittelpunkt, aber nicht nur das Mitleid Hofmillers für Edith und für ihre Familie, nicht nur Ediths Umgang mit Hofmillers Mitleid. Auch der Leser empfindet Mitleid mit Zweigs Hauptprotagonisten, mit Hofmillers, mit Edith und ihrem Vater, mit Doktor Condor... . Alle Figuren des Romans sind bestens ausgearbeitet, sie alle überzeugen durch den Tiefgang ihrer Person, durch ihren großartig ausgearbeiteten Charakter vollkommen.

Ich habe "Die Ungeduld des Herzens" von Stefan Zweig, veröffentlicht im Jahr 1939, sehr gerne gelesen und bin der Meinung, dass man dem Roman auch heute noch oder vielleicht gerade heute besonders viel entnehmen kann. Definitiv ein Klassiker, den man gelesen haben sollte!



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